Holot [Teil 1]: „Leave, leave leave!“

 

Anfang April 2016 mache ich mich zusammen mit meinen Desert Rose- Kolleginnen Rahel und Lucia, die bereits mehrfach in Israel waren, auf ins Heilige Land. Ziel unserer ersten gemeinsamen Reise ist es, den Kontakt zu unseren Partnerorganisationen zu intensivieren, aber auch Interviews zu führen und Informationen und Fotos für künftige Veranstaltungen in Deutschland zu sammeln. Bereits unser zweiter Reisetag führt uns an einen unwirklich erscheinenden Ort, den es eigentlich nicht geben dürfte: Holot.

Artikel_Sigal_Levinsky-Park
Am Morgen des 2. April finden wir uns im Levinsky Park ein. Der Park, der sich in den folgenden Tagen als zentraler Ausgangspunkt fast all unserer Treffen herausstellen wird, ist für die überwiegend in Süd-Tel Aviv ansässige afrikanische Community so etwas wie ein offenes Sozialzentrum. Als wir dort ankommen, begrüßt uns bereits eine kleine Gruppe vor einem Minibus wartender Menschen. Sigal Kook, eine Aktivistin, die sich für die Rechte afrikanischer Migranten in Israel einsetzt, organisiert die Fahrten zum Holot. Jeden Samstag können so Journalisten, Aktivisten, Ehrenamtliche oder andere Interessierte zu dem Ort gelangen, der etwa zwei Autostunden von Tel Aviv liegt.

Ein „offenes Gefängnis“ mitten im Nirgendwo

Holot ist formal gesehen das Ergebnis einer Änderung des so genannten „Anti-Infiltrationsgesetzes“. Lange Zeit erlaubte dieses Gesetz der israelischen Regierung, afrikanische Flüchtlinge und Migranten, die illegal über die ägyptisch-israelische Grenze nach Israel gekommen waren, ohne Prozess oder Prüfung der Fluchtgründe bis zu drei Jahre in das Abschiebegefängnis Saharonim in der Negev-Wüste zu sperren. Bis Ende 2013 waren in Saharonim rund 2.400 Menschen inhaftiert und lebten dort unter widrigsten Bedingungen. Frauen und Kinder wurden getrennt von den Männern in Zelten unterbracht. Sigal erzählt, sie habe Berichte von Frauen gehört, wonach diese im Winter manchmal bis zu den Knien im Wasser standen, während Ratten um sie herumschwammen. Auch Flüchtlinge, die im Sinai in die Hände von Menschenhändlern gefallen waren und gefoltert wurden, fanden sich in Saharonim wieder. Im September 2013 wurde Saharonim vom Obersten Gerichtshof Israels als verfassungswidrig erklärt und die Regierung angewiesen, die Menschen innerhalb von 90 Tagen freizulassen. Die Regierung nutzte die Zeit und baute ein neues „offenes Gefängnis“ namens Holot, direkt neben Saharonim. Wenige Tage vor Ablauf der Frist wurde mit der bereits vierten Gesetzesänderung des „Anti-Infiltration-Law“ der Weg dafür geebnet, zumindest die rund Tausend – überwiegend junge – Männer, die bis dahin noch immer in Saharonim inhaftiert waren, nach Holot zu überführen.

Auf Haft folgt Entwürdigung

Während unserer Fahrt zum Holot erzählt Sigal der Gruppe im Bus mehr über die Lebensumstände in dem so genannten „Open Detention Center“ und was „offen“ in diesen Zusammenhang überhaupt bedeutet: Holot besteht aus eng aneinander gereihten Blechhallen und Containern auf einem in vier Sektionen unterteilten Gelände, das ringsum von Stacheldrahtzaun umgeben ist. Zwar können die Menschen Holot verlassen, doch mussten sie sich zu Beginn noch drei Mal am Tag in eine Anwesenheitsliste eintragen. Die wenigen Stunden dazwischen waren praktisch nicht sinnvoll nutzbar. „Sie konnten raus in die Wüste, das ist aber auch das einzige, wofür man Holot als offen bezeichnen könnte“, so Sigal. Inzwischen müssen sich die Bewohner dank einer weiteren Gesetzesänderung nur noch zwei Mal am Tag melden. Eine kleine Erleichterung – mehr aber auch nicht. Innerhalb des Holot stehen die Menschen unter ständiger Beobachtung. Beim Übergang von einer Sektion in eine andere werden ihre biometrischen Daten erfasst. Das Wachpersonal versucht immer ein Auge darauf zu haben, wo man sich mit anderen Bewohnern trifft, mit wem und worüber man sich austauscht. Nach 22 Uhr müssen die Männer nicht nur in ihrer eigenen Sektion, sondern auf ihren Zimmern sein. Es herrscht absolute Bettruhe.

Protestmarsch nach Jerusalem

Artikel_Negev-Wueste

Wenige Tage nach der Eröffnung entschloss sich eine Gruppe von knapp 300 Holot-Insassen zu einem Protestmarsch ins 160 Kilometer entfernte Jerusalem, um vor dem Obersten Gerichtshof und dem Knesset (Einkammerparlament des Staates Israel) für ihre Rechte als Flüchtlinge zu demonstrieren. Sigal und andere Aktivisten schlossen sich dem Marsch an. „Es war das erste Mal, dass diese Leute auf Israelis trafen, die keine Wachmänner waren und die sie wie Menschen behandelten“, erinnert sich Sigal. Sie hätten auch abhauen und versuchen können, beispielsweise in Tel Aviv unterzutauchen, doch das kam für sie nicht in Frage. „Wir suchen kein Versteck! Wir wollen, dass uns die Regierung als Flüchtlinge anerkennt“, zitiert Sigal sichtlich beeindruckt einen der Teilnehmer des Protestmarschs. Da Holot-Insassen die Anlage nicht länger als 48 Stunden unerlaubt verlassen dürfen, wurden die friedlichen Demonstranten vor dem Knesset auf brutale Weise verhaftet und als Strafe für drei Monate ins Gefängnis Saharonim gesperrt. Für Sigal war dies die Initialzündung sich weiter für die Flüchtlinge zu engagieren und als Zeichen der Solidarität wöchentliche Fahrten zum Holot zu organisieren, was sie nun seit über einem Jahr tut.

Vom Leben ausgeschlossen

Viele erschreckende Details über die Lebensumstände in Holot haben sich Sigal und ihren Besuchergruppen durch die vielen Gespräche mit den Bewohnern erst nach und nach erschlossen. Das Essen, so berichten die Bewohner, sei miserabel. So ist zum Beispiel der Reis häufig nicht richtig gekocht oder Eier- und Milchprodukte verdorben. Wasser müssen die Bewohner innerhalb der Anlage kaufen. Sie dürfen es aber weder mit nach draußen nehmen, noch Wasser, das sie vielleicht draußen geschenkt bekommen, mit nach innen nehmen. Pro Tag bekommen die Flüchtlinge 16 Schekel, umgerechnet etwa 3,50 Euro, wobei das Geld anscheinend nur sehr unregelmäßig ausbezahlt wird. Es reicht nicht einmal für einen Bus nach Be’er Sheva, die nächstgelegene Stadt, etwas mehr als eine Stunde von Holot entfernt. Auch eine adäquate medizinische Versorgung gibt es nicht in Holot, obwohl viele unter Krankheiten oder Verletzungen, beispielsweise als Folge der Folter im Sinai leiden. „Einen Arzt bekommen die Leute hier kaum zu sehen. Ich bin nicht einmal sicher, ob es im Holot überhaupt richtige Ärzte gibt oder nur ärztliche Assistenten“, äußert sich Sigal diesbezüglich skeptisch. In Be’er Sheva gibt es ein paar Ärzte, welche die Flüchtlinge theoretisch aufsuchen könnten, doch auch das müssen sie auf eigene Kosten tun. Und wenn sie sich einen Arztbesuch leisten, dann bekommen sie laut Sigal wohl meistens auch nur eine Art Schmerztablette und den guten Rat, viel Wasser zu trinken. Besonders schockierend findet Sigal eine Aussage, die Flüchtlinge anscheinend immer wieder zu hören bekommen, wenn sie einem Arzt ihr Leid klagen: „Wenn Sie nicht zufrieden sind mit der Situation, dann gehen Sie doch zurück!“

Nichts, was dich Mensch sein lässt

Überhaupt dürfen sich die Bewohner von Holot anscheinend über nichts beschweren. Wenn sie irgendetwas tun, das nicht erlaubt ist oder den Wachen missfällt, kann es passieren, dass sie wieder im geschlossenen Gefängnis Saharonim landen. Es scheint als könnten die Wachen mit den Bewohnern umgehen, wie es ihnen passt. „Ein Bewohner“, erinnert sich Sigal, „meinte einmal zu mir, dass die Wachen wie Gesetzgeber auftreten würden. Jeder macht seine eigenen Regeln.“ Alles in Holot scheint darauf ausgelegt zu sein, dass sich die Bewohner nicht wie normale Menschen fühlen. In der Regel teilen sich die Bewohner zu zehnt einen kleinen Raum mit engen Etagenbetten. Alle ihre Habseligkeiten müssen sie in einem kleinen Spint verstauen. Das kleine Stück Seife, das sie in der Gruppe für mehrere Tage aufteilen müssen, reicht nicht einmal für eine Dusche. Und Shampoo von außen darf nicht mit reingebracht werden.

Sigal erzählt von einem Bewohner, der seine Dread-locks abschneiden musste, weil er nicht die Möglichkeit hatte, sich ordentlich die Haare zu waschen. Laut Sigal sollen die Bewohner nichts haben, was sie Mensch sein lässt oder ihre Persönlichkeit wahrt. Einmal, erzählt sie, hätten die Aktivisten heimlich Putzmittel über den Zaun geworfen, damit die Bewohner wenigstens einmal ihre Toiletten reinigen konnten. Ein anderes Problem neben mangelnder Sauberkeit seien die Temperaturen, die im Winter in der Wüste nachts bis unter Null Grad sinken können. Bis vor kurzem hatten die Bewohner nicht einmal Klimaanlagen. Also brachten die Aktivisten Decken und Mäntel, doch auch diese durften die Bewohner nicht mit reinnehmen. Hilfsorganisationen, Aktivisten und Bewohner gingen so lange auf die Barrikaden, bis sogar Zeitungen das Thema aufgriffen und der Druck schließlich so groß wurde, dass die Regierung Klimaanlagen anbringen ließ. Doch auch damit spielten die Wachen. „Die Regler gab man ihnen nicht, sondern schaltete die Geräte nach Belieben ein und aus oder bestimmte die Temperatur“.

Ein einfaches, aber wirksames Konzept

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Was ist eigentlich die Idee hinter einem „offenen Gefängnis“ wie Holot, das selbst in Israel den wenigsten bekannt zu sein scheint? Als Holot eröffnet wurde, befanden sich etwa 54.000 afrikanische Asylsuchende im Land, die von der Regierung schlicht als „Eindringlinge“ bezeichnet werden. Sie stammten überwiegend aus Eritrea und dem Sudan. Holot bietet gerade einmal Platz für ca. 3.400 Menschen. „Die Idee von Holot“, ist Sigal sich sicher, „ist nicht etwa, die Leute von den Städten fern zu halten. Der einzige Zweck von Holot ist es, die Seelen der Flüchtlinge zu brechen, um sie dazu zu bewegen, Israel wieder zu verlassen. Und es funktioniert. Selbst bei denen, die gar nicht in Holot waren. Allein die Tatsache, dass sie irgendwann in Holot landen könnten, veranlasst viele, einem freiwilligen Abschiebeverfahren zuzustimmen.“ Da man die Flüchtlinge, wie zum Beispiel im Fall der Eritreer, nicht in ihre Herkunftsländer zurückschicken kann, hat Israel Deals mit Uganda und Ruanda abgeschlossen. Da diese Länder als sicher gelten, bietet man den Flüchtlingen 3.500 Dollar an, wenn sie sich freiwillig deportieren lassen. Glaubt man Sigal, dann hat Israel Holot so konzipiert, dass die Menschen jeden Lebensmut verlieren und den Wunsch entwickeln, das Land wieder zu verlassen: „Wenn es dir hier nicht gefällt: Geh! Wenn du Hunger hast: Geh! Was du auch tust, die Botschaft ist: Geh!“. Und die Taktik scheint tatsächlich aufzugehen. Von den ursprünglich 54.000 Asylsuchenden sind heute nur noch etwa 41.000 In Israel.

Als wir gegen Mittag und nach einem kurzen Zwischenstopp in Be’er Sheva schließlich Holot erreichen, bittet Sigal die Besucher, die Privatsphäre der Bewohner von Holot zu respektieren und beispielsweise keine Fotos zu machen, ohne davor um Erlaubnis zu fragen. Gleichzeitig ermutigt sie uns, offen auf die Menschen zuzugehen, sich intensiv mit ihnen auszutauschen und nach Möglichkeit auch über den Besuch hinaus den Kontakt zu halten, um ihnen Mut zu machen.

Was uns vor Ort erwartete, erfahrt ihr in Teil 2 der Holot-Reportage…

Autor: Ingo Steidl

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