Stimmen von Vergessenen

 

Seit einiger Zeit hört man nichts mehr über Menschen, die auf dem Sinai gefoltert werden. So laut der Aufschrei durch die Medien ging, als im Jahr 2012 Reportagen zum grausamen Menschenhandel im TV und in Printmedien kursierten, so schnell ist die Empörung auch wieder verstummt. Das Thema ist von der Bildfläche verschwunden, als wäre es nie dagewesen.

Gibt es die sogenannten Foltercamps noch, die seit 2008 auf dem Sinai betrieben wurden? Werden MigrantInnen aus Eritrea, dem Sudan oder Äthiopien weiterhin auf bestialische Weise misshandelt, um Lösegeld von ihren Verwandten zu erpressen – auf der ägyptischen Halbinsel oder vielleicht anderswo? Und wie ergeht es den Überlebenden, die Unvorstellbares erlitten haben und schließlich freigelassen wurden?

Wer Antworten auf diese Fragen sucht, wird kaum fündig. Das Internet schweigt; Reportagen und Artikel beziehen sich auf den Informationsstand von 2014 oder früher. Aussagen dazu, wie es zur jetzigen Zeit auf dem Sinai aussieht oder wie es den Überlebenden geht, sind schwer zu finden. War der Sinai-Fall schon in den letzten Jahren wenig präsent, so scheint die Thematik heute vollkommen verschwunden zu sein. Dabei belegen Zahlen das unfassbare Ausmaß der Gewalt: schätzungsweise 30.000 Menschen wurden zwischen 2009 und 2013 auf der ägyptischen Halbinsel gequält, wurden über Wochen oder Monate hinweg vergewaltigt, geschlagen, verbrannt und anderes (Quelle: Van Reisen et.al. 2014: The Human Trafficking Cycle. Sinai and Beyond. Wolf legal publishers). Die meisten von ihnen sind EritreerInnen, ein kleiner Teil stammt aus anderen nordafrikanischen Ländern. Etwa 10.000 Männer, Frauen und Kinder sollen in den Foltercamps ums Leben gekommen sein.

Mich lassen die Fragen nicht mehr los, seit ich den Dokumentarfilm „The Sound of Torture“ gesehen habe, der das grausame Schicksal von Gefolterten auf dem Sinai verfolgt. Der drängende Wunsch nach Antworten führt mich in die israelische Hauptstadt Tel Aviv, wo ich hoffe, vom Menschenhandel Betroffene zu finden. Etwa 7.000 Sinai-Überlebende sollen laut Berichten in Israel leben; vielleicht führt mich die Suche hier weiter.

Rund um den Levinsky Park

Mitten im Hochsommer empfängt mich Tel Aviv, die junge, aufgeweckte Metropole. Eine tief entspannte Atmosphäre weht durch die Straßen; braungebrannte Menschen sonnen sich am Strand von Jaffa, hippe KünstlerInnen und Intellektuelle schlürfen Ice-Latte in den Cafès rund um die Allenby. Das Bild passt nicht zu meinen Fragen. Erst als ich den Süden der Stadt erreiche, passt sich die Szenerie meiner Stimmung an. Trostlos und öde wirkt die Atmosphäre rund um den Levinsky Park, ein Sammelpunkt für Geflüchtete aus Afrika, die mehrheitlich in Süd-Tel Aviv leben. Tatsächlich treffe ich hier einige Sinai-Überlebende; der Kontakt wird mir durch eine Organisation vermittelt, die vor Ort mit Flüchtlingen zusammenarbeitet. Einigen von ihnen sieht man die Folgen der Foltercamps auf den ersten Blick an: Narben auf den Armen, verstümmelte Hände, glasige Augen, die hin und her zucken, als wäre der Schrecken noch nicht vorbei. Ein Junge, gerade mal achtzehn, erzählt mir, dass er jede Nacht von Alpträumen verfolgt wird. Mehrere Wochen hat man ihn auf dem Sinai festgehalten und gefoltert, das ist jetzt zwei Jahre her. Die Angst plagt ihn noch immer, nicht nur vor seinen Erinnerungen, sondern auch vor der Zukunft. In Israel bekommt er, wie die meisten afrikanischen MigrantInnen, kein Visum – er muss illegal im Land leben, darf weder arbeiten noch eine Wohnung mieten. Er wohnt bei einem entfernten Verwandten, der für seinen Lebensunterhalt aufkommt. Dabei möchte er nicht abhängig sein, aber selbst Geld verdienen ist keine Option, zu sehr setzen ihm die Folgen der Misshandlungen noch zu. Alle vier Wochen muss er seine Duldungspapiere erneuern und dabei jedes Mal befürchten, ins Abschiebegefängnis Holot geschickt zu werden. Ich habe selten einen Jungen gesehen, der verlassener wirkte, aussichtslos in einem fremden Land, das ihm nur feindlich gesinnt ist.

Die Perspektivlosigkeit steht vielen Sinai-Überlebenden ins Gesicht geschrieben. Sie leben in Israel ohne Papiere, ohne Rechte, ohne staatliche Hilfeleistungen. Einige berichten von alltäglichem Rassismus, der ihnen immer wieder begegnet. Vom Wunsch zu studieren, der nicht erfüllt werden kann, weil das Geld fehlt. Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft sind begrenzt. Und das nach der Hölle, die sie durchlitten haben.

Wo ist die internationale Gemeinschaft, höre ich immer wieder von meinen GesprächspartnerInnen, wenn sich das Gespräch um ihre Lebenssituation dreht. Manchen ist es etwas besser ergangen; zwei Straßenecken neben dem Levinsky Park treffe ich einen jungen Mann, der hier in einem Internetcafè arbeitet. Gemeinsam mit seiner Frau wurde er auf dem Sinai verschleppt. Heute hat er zwei Töchter, er hat sich mit seiner Situation abgefunden, versucht, das Beste daraus zu machen. Das Beste das eben geht, mit mehreren Schusswunden im Bauch, die ihn an die Flucht aus dem Sinai erinnern, weil er an der israelischen Grenze von ägyptischen Offizieren beschossen wurde.

Solidarität am Ende aller Perspektiven

Es ist die Solidarität innerhalb der eritreischen Gemeinschaft, die manchen der Foltercamp-Überlebenden noch Halt gibt, selbst in den hoffnungslosesten Momenten. Wer als MigrantIn in Tel Aviv strandete, bevor die Grenzschutzmauer gebaut wurde die AfrikanerInnen seither aus Israel fern hält, der wurde nach Süd-Tel Aviv gefahren und vor dem Levinsky Park abgesetzt. Hier könne man sicher sein, von irgendeinem Geflüchteten aufgenommen zu werden, der bereits dasselbe Schicksal erfahren hat, wird mir immer wieder von EritreerInnen berichtet. Einige meiner GesprächspartnerInnen erzählen, wie sie von ehemals fremden Menschen in ihr Haus gelassen, mit Geld und Lebensmitteln versorgt wurden, bedingungslos und so lange, bis sie für sich selbst sorgen konnten. Dieser starke Zusammenhalt berührt mich sehr. Er steht im krassen Kontrast zum großen Wegschauen, zum weitest gehenden Schweigen der sogenannten Internationalen Gemeinschaft.

Ich finde in Tel Aviv einige Flüchtlingsorganisationen, die Unterstützung für Sinai-Überlebende anbieten. Sie decken verschiedene Bereiche ab: Hotline for Regugees and Migrants bietet rechtlichen Schutz, Physicians for Human Rights-Israel hauptsächlich medizinische Hilfe, ASSAF, eine Partnerorganisation von Desert Rose e.V., vor allem psychosoziale Unterstützung. In den vergangenen Jahren haben die NGOs immer wieder versucht, internationale Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, in dem sie Berichte veröffentlichten. Informationen zum Menschenhandel wurden an Organisationen weitergeleitet, Personen aus dem öffentlichen Leben adressiert. Warum der Fall trotzdem so wenig internationale Beachtung gefunden hat, bleibt ein Rätsel. Heute kümmern sich die Organisationen vor allem darum, die Rechte von Folteropfern in Israel zu verbessern.

Verlagerung des Phänomens

Und wie sieht es aktuell mit dem Menschenhandel auf dem Sinai aus? Die meisten die ich frage – EritreerInnen und MitarbeiterInnen der Flüchtlingsorganisationen – glauben, dass das Foltergeschäft nicht mehr in der extremen Dimension auf der ägyptischen Halbinsel betrieben wird. Seit die israelische Mauer zum Sinai steht, ist es ohnehin schwer, an Informationen zu gelangen, weil kaum mehr Geflüchtete ins Land kommen. Meine eritreischen GesprächspartnerInnen wissen zumindest von keinem aktuellen Fall. In einem der wenigen aktuellen Berichte zum Sinai-Menschenhandel heißt es, dass die Foltercamps Ende 2014 im Zuge von Anti-Terror Maßnahmen des ägyptischen Militärs geschlossen worden seien (Quelle: van Reisen, Rijken 2015: Sinai Trafficking: Origin and Definition of a New Form of Human Trafficking. In: Social Inclusion, Volume 3).

Stattdessen sprechen alle davon, dass sich das „Geschäftsmodell“ nach Libyen verlagert habe. Dort würden nun Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa festgehalten und erst gegen Zahlung von Lösegeld weitergelassen. Ein junger Mann berichtet mir, er habe gerade mehrere tausend Dollar für seinen Bruder gezahlt, der in der Gewalt von MenschenhändlerInnen war. Ob das Modell genau dasselbe ist wie das auf dem Sinai, ob MigrantInnen wieder am Telefon gefoltert werden, um den Druck auf ihre Angehörigen zu verstärken, ob es die gleichen beduinischen Banden sind, die jetzt in Libyen operieren – all das sind Fragen, die dringend systematischer Untersuchungen bedürfen. Und einer breiten internationalen Sichtbarmachung, damit der Horror, der auf dem Sinai stattfand, nicht anderswo fortgeführt wird.

Was bleibt

Mit einem Gefühl von tiefer Fassungslosigkeit verlasse ich Tel Aviv nach vier Wochen. Dass der Horror des Sinais mir so greifbar geworden ist, dass ich mit Menschen gesprochen habe, die diesen Wahnsinn tatsächlich erlebt haben, bleibt auch nach den vielen Begegnungen für mich unwirklich. Wie kann es sein, dass dreißigtausend Menschen über sechs Jahre hinweg Opfer von schwerer Misshandlung, Folter und Mord wurden, ohne dass es zu einem Eingreifen kam? Wie kann es sein, dass die TäterInnen bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen wurden? Wieso lebt eine hohe Anzahl derer, die all das erleiden mussten, heute in Armut und Perspektivlosigkeit und wird einfach von der Welt vergessen? Die Erfahrungen in Tel Aviv erfüllen mich mit tiefer Betroffenheit. Darüber, wie weit das Böse im Menschen gehen kann und darüber, wie leicht es ist, wegzuschauen. Der Fall des Sinai-Menschenhandels ist eine der größten Tragödien unserer Zeit. Doch auch der Umgang mit den Überlebenden bleibt ein Armutszeugnis für die Anteilnahme in unserer Welt.

Autor: Lucia Heisterkamp

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